Die von Mimoza betreuten Familien freuten sich über den unangemeldeten Besuch und drückten ihren Dank für die Hilfe aus Österreich aus.
Fotos: Schwendenwein (18); Grafik: Scherz-Kogelbauer
Als sich Österreich vor 30 Jahren für den EU-Beitritt entschied, hatte sich Albanien nach 50 Jahren Kommunismus gerade erst in der Demokratie wiedergefunden. Seither setzt sich Inge Weik aus Pitten mit dem „Verein für unsere Welt“ in Albanien ein. Seit zehn Jahren ist nun auch Albanien EU-Beitrittskandidat. Wie trägt die Hilfe aus der Buckligen Welt zum Aufbau im Land bei? Der „Bote“ war auf Lokalaugenschein in diesem faszinierenden Land.
Links das Paradies, rechts das Erbe des Kommunismus. Auf der einen Seite der Reichtum des sogenannten Westens, auf der anderen die Armut des Südens. Hier süßes Urlaubsvergnügen, dort bittere Realität – und dazwischen eine Straße, so trennend wie eine Kluft, aber doch die Brücke zwischen zwei Welten. Auf dieser Straße in Albaniens zweitgrößter Stadt Durrës suche ich an einem heißen Morgen im August mein Ziel. Ich will mich mit der ehemaligen Lehrerin Mimoza Celcima (63) treffen, die hier bereits ihr ganzes Leben lang zu Hause ist. Sie hat Geschichte und Geografie an einer Schule in Durrës unterrichtet, seit wenigen Wochen ist sie in Pension.
Bisher haben wir nur ein paar WhatsApp-Nachrichten ausgetauscht. Dabei hat sie mir einen Treffpunkt genannt. Allerdings hat das Navigationssystem in meinem Mietwagen die genaue Adresse nicht akzeptiert. Der Stadtverkehr ist dicht. Immer wieder bleiben Fahrzeuge scheinbar grundlos mit Warnblinkanlage stehen. Dann steigt jemand aus, um ins nächste Geschäft zu laufen. In diesem dichten Treiben nähere ich mich einem mit Sandstein gepflasterten und frisch renovierten Platz. Schließlich entdecke ich mein Ziel: An der Ecke des Aleksandër Moisiu-Platzes warten Mimoza und ihr Mann bereits auf mich. Im Stop-and-go-Verkehr fällt es nicht auf, dass auch ich anhalte, um die beiden einsteigen zu lassen. Die Navigation übernimmt ab jetzt meine Beifahrerin. Und sie ist entschlossen, mir schonungslos ihre Realität nahezubringen. Mit einer ausladenden Handbewegung zeigt sie auf die vor uns liegende Stadt: „Was du hier siehst, ist Korruption.“
Politikwissenschaftler Afrim Krishnaqi nimmt die Verantwortungsträger der EU in die Pflicht. Sie sollten nach den Bedürfnissen der einfachen Menschen fragen, anstatt Mächtige noch mächtiger zu machen
Vom Geheimtipp zur Tourismus-Hochburg
Tatsächlich hat sich Albanien zuletzt von der „Geheimdestination“ zur Tourismushochburg entwickelt. Das Geld aus der rasant wachsenden Branche ist wichtig für die Infrastruktur im Land – wenn es auch tatsächlich dort ankommt, wo es soll. Überall dort, wo analysiert wird, wie sich Albanien weiter an die EU annähern kann, hört man nämlich, dass die Korruption nach wie vor eine der größten Hürden für Albaniens EU-Beitritt sei. Das erklärt etwa der Sicherheitsexperte Ledion Krisafi vom albanischen Institut für Internationale Studien. Der Status als EU-Beitrittskandidat ist für Albanien demnach Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite ist das Land dadurch aufgefordert, sich in Richtung EU-Standards zu entwickeln. Anderseits, meint etwa der Politikwissenschaftler Afrim Krishnaqi, fließe Geld für den Aufbau vielfach an die Mächtigen im Land, damit sie noch mächtiger werden.
Projektfarm
Aus diesem Grund brauche es Organisationen und Initiativen, die ihr Augenmerk direkt auf die Bedürfnisse der Bevölkerung legen – solche wie den „Verein für unsere Welt“ aus Pitten in der Buckligen Welt. Vereinsgründerin Inge Weik hat mit Mimoza in Romanat (Landkreis Durrës) vor 25 Jahren eine Projektfarm gegründet, um Arbeitsplätze zu schaffen. „Viele Menschen haben direkt nach dem Kommunismus keine Ahnung gehabt, was Erwerbsarbeit ist“, erzählt mir Inge Weik, als ich mich auf meine eigene Albanienreise vorbereite. Die Geschichte einer Familie ist ihr besonders in Erinnerung: „Der Sohn war behindert, die Eltern überfordert. Einkommen gab es keines, und wenn der alkoholabhängige Vater getrunken hatte, wurde er gewalttätig.“
Wochen später stehe ich vor einem pink verputzten Haus auf den Hügeln der Stadt Durrës. Rund um das Gebäude erstreckt sich ein kleiner Obstgarten. Katzen streunen durch den Hof. Hier lebt die Familie von Dila und Pjeter. Ihr ältester Sohn ist der behinderte Junge von einst. Heute umarmt Dila mit Tränen in den Augen Mimoza und murmelt dabei: „Ohne euch hätten wir es nicht geschafft, zu überleben.“ Mit „euch“ meint Dila die Menschen aus Österreich, die seit Jahrzehnten den „Verein für unsere Welt“ unterstützen. Pjeter hat es durch die Hilfestellung geschafft, vom Alkohol wegzukommen, Arbeit zu finden und Geld für seine Familie zu verdienen. Ihr ältester Sohn konnte so, trotz seiner schweren Behinderung, erwachsen werden. Die drei jüngeren Geschwister haben jeweils eine Ausbildung abgeschlossen – und eine seiner Schwestern ist sogar FIFA-Schiedsrichterin.
Sicherheitsexperte Ledion Krisafi meint, Albanien mache Fortschritte. Zum Beispiel wurde im Kampf gegen die Korruption das Justizsystem reformiert. Trotzdem werde es noch dauern, bis die Reform greift
Gledis Gjipali ist zuversichtlich, dass Albanien in absehbarer Zeit EU-Mitglied werden kann. Endrita Shehu arbeitet für das EU-West-balkan-Programm
Vielfältige Unterstützung
Es ist nicht der einzige Besuch bei einer vom „Verein für unsere Welt“ unterstützten Familie. Mimoza will mir noch mehr zeigen. Sie navigiert mich von breiten Boulevards über neu asphaltierte, aber aufgebrochene Straßen bis zu staubigen Schotterpisten. In einer neu errichteten Siedlung erzählt sie von der Müllhalde, die es hier bis vor wenigen Jahren noch gegeben hat: „Die Menschen lebten hier in Barracken mit ihren Kühen, Schafen und Hunden.“ Befestigte Straßen gebe es aber auch heute nur für diejenigen, die gesellschaftlich höhergestellt seien, meint Mimoza. Die Familien, die wir – ohne Voranmeldung – besuchen, scheinen trotzdem zufrieden zu sein. Ein Familienvater schildert mir: „Wir waren 15 Leute in einer kleinen Behausung, hatten keinen Platz und keine Perspektive.“ Seine Eltern erhalten bis heute Unterstützung durch den Verein. Er selbst ist irgendwann nach Frankreich ausgewandert, wo mittlerweile seine eigenen Kinder bereits die Schulausbildung abgeschlossen haben und studieren.
„Braindrain“
Es ist ein Phänomen, das sich durch Albaniens Gesellschaft zieht. Von den rund fünf Millionen registrierten Staatsbürgern leben nur etwa zwei Millionen in Albanien selbst. Ursache dafür ist, dass vor allem EU-Länder mit für albanische Verhältnisse attraktiven Jobangeboten locken. Dieser sogenannte „Braindrain“ wirke sich vor allem negativ auf das Gesundheitssystem in Albanien aus, erklärt Gledis Gjipali von der albanischen Europa-Bewegung. Das zeige, dass die EU alleine die Probleme in Albanien nicht löse. „Jede Familie in Albanien hat einen Rucksack zu tragen“, meint dazu Endrita Shehu. Die 28-Jährige ist am Institute for Democracy and Mediation (IDM) für das „EU und Westbalkan“-Programm zuständig. Sie spricht ein Erbe des Kommunismus an, das nicht auf den ersten Blick sichtbar ist: die von Verfolgung, Repression und Armut geprägten Familiengeschichten. Möglicherweise suchen auch deshalb so viele Menschen außerhalb der Grenzen Albaniens ihr Glück. Endrita hat selbst einige Jahre im Ausland gelebt. Zurückgekommen ist sie, „weil ich dadurch vielleicht etwas bewegen und Jüngeren zeigen kann, dass es Hoffnung in Albanien gibt“.
Die Projektfarm in Romanat soll wiederbelebt werden
Mimozas Kraftort ist der AntoniusWallfahrtsort Laç, den sie auch mit Inge Weik öfter besucht hat
Mit den Celcimas ging es zwei Tage lang quer durch Albanien
Perspektive geben
Das wollen auch die Celcimas erreichen. Die Farm in Romanat hat 25 Jahre gut funktioniert. Heute betreibt Mimozas Familie den Hof alleine. Die Arbeiter von damals sind weitestgehend in Pension, ihre Kinder ebenfalls m Ausland. Trotzdem sieht Mimoza in jedem Bildungsabschluss einen Erfolg, „weil die Kinder was aus sich machen können“. Lieber wäre ihr allerdings, sie könnte allen eine Perspektive in der Heimat ermöglichen. Mittelfristig will sie deswegen die Farm neu beleben. Inge Weik sichert aus der Ferne zu: Hilfe dafür werde auch weiterhin aus der Buckligen Welt kommen.
Der Hafen von Shengjin: Hierher bringt Italiens Regierung im Mittelmeer aufgegriffene Flüchtlinge
Verein für unsere Welt
Inge Weik war seit 1996 selbst bereits 55-mal in Albanien. Im Jahr 2000 gründete sie mit ihrem Mann Johann den „Kinder-Jugend-Kreis“ für die Soforthilfe finanziel schwacher Menschen in Österreich, Albanien und Südungarn. 2013 folgte die Umbenennung in „Verein für unsere Welt“ mit einem klaren Bekenntnis „zur Wertschätzung der Schöpfung des Lebens“. Unterstützen kann man den Verein unter anderem beim Schmankerlmarkt in Pitten, der 14-tägig an Samstagen von 9 bis 12 Uhr stattfindet.
Aktuelle politische Lage in Albanien
Ministerpräsident Edi Rama übt bereits seine dritte Amtszeit aus. Die Opposition hat wenig Wirkkraft. Viele erinnert das zunehmend an die Zeit des Kommunismus. Nach dessen Fall 1993 haben die Menschen in Albanien versucht, zum Rest der Welt aufzuschließen. Die USA und die EU sind ihre Hoffnungsanker. Letztere hält Albanien seit zehn Jahren die Karotte vor die Nase – so lange gilt das Land als EU-Beitrittskandidat.
Stattdessen erlaubt Rama der italienischen Regierung in Albanien Flüchtlingsunterkünfte. Im Mittelmeer aufgegriffene Flüchtlinge werden dadurch in den Hafen von Shengjin gebracht.
Diese Recherche entstand im Rahmen von „eurotours 2024“, unterstützt durch Mittel der Europäischen Union.